1. Besonderheiten der Borderline-Symptomatik und Diagnosestellung im Jugendalter (an DSM-V / ICD-11 orientiert)
Lange Zeit wurde die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung im Jugendalter nicht gestellt. Das lag daran, dass Jugendliche sich noch in der Entwicklung befinden und unklar war, wo man eine krisenhafte Pubertät von der Persönlichkeitsstörung unterscheiden kann. Viele Jugendliche zeigen extreme Stimmungsschwankungen, neigen eventuell zu Selbstüber- oder -unterschätzung, risikoreichen Verhaltensweisen, wie exzessivem Alkoholkonsum oder Ähnlichem, Idealisierung und Identifikation mit einer peer-group, eventuell Entwertung des eigenen Elternhauses. In den letzten Jahren wurde viel geforscht und erkannt, dass es dennoch eindeutige Unterschiede gibt zwischen einer krisenhaften Pubertät und einer Persönlichkeitsstörung. Das lässt sich allerdings nicht an Symptomen alleine festmachen, sondern betrifft eher grundlegende Bereiche der Identität und der wichtigen zwischenmenschlichen Beziehungen.
Wie erkenne ich eine Persönlichkeitsstörung?
Symptome können in ihrer Art der Ausprägung und Empfindung sehr unterschiedlich ausgeprägt sein und beinhalten häufig folgende Punkte:
- Der Selbstwert, die Stimmung und auch das Energieniveau können stark schwanken, sodass der Mensch zu einem Zeitpunkt das Gefühl hat, alles schaffen zu können und zum anderen Zeitpunkt das Gefühl hat, nicht mehr aus dem Bett zu kommen.
- Freundschaften gestalten sich schnell, intensiv und oft mit großer Idealisierung. Dies kann aber leicht zu Enttäuschung, Streit und plötzlichem Kontaktabbruch führen. Stabile Beziehungen zu führen ist schwierig. Manche Menschen können sozial sehr isoliert sein.
- Die Motivation, in die Schule zu gehen, Hobbys zu verfolgen kann schwanken und es ist schwierig, nach Frustrationserlebnissen weiterhin dabei zu bleiben. Es führt oft dazu, dass die Menschen nicht entsprechend ihrer natürlichen Fähigkeiten und Begabungen die Schule besuchen und ihren beruflichen Weg gehen können.
- Sie können anderen Menschen gegenüber ängstlich und misstrauisch sein sowie das Gefühl haben, wachsam sein und sich schützen zu müssen – manchmal auch in dem Sinne „Angriff ist die beste Verteidigung“. Oft fühlen sie sich abgelehnt, unerwünscht, ungeliebt und unverstanden.
- Einige leiden unter überhöhten inneren Erwartungen und Perfektionismus mit ausgeprägtem Schwarz-Weiß-Denken.
- Der Umgang mit Wut und Aggression ist schwierig und kann zu Impulsivität, selbstschädigendem Verhalten und Suizidalität führen. Bei manchen zeigen sich zunehmende Feindseligkeit und ausgeprägte Neidgefühle, die teilweise schlecht kontrolliert werden können.
Symptome, die wachsam machen sollten sind:
- Suizidalität
- Selbstverletzendes Verhalten
- nicht Ansprechen auf Behandlungen für Depressionen, Angsterkrankungen, Essstörungen, Posttraumatischen Belastungsstörungen, ADHS, Somatisierungsstörung, ausgeprägte Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus; diese Erkrankungen können als Komorbiditäten vorkommen, bei Nicht-Ansprechen sollte die Diagnostik der Persönlichkeitsentwicklung erfolgen.
Wer diagnostiziert eine Persönlichkeitsstörung?
Die Diagnostik wird bei einer Fachärztin/einem Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie durchgeführt, oft in Zusammenarbeit mit der Klinischen Psychologie. Weiters machen auch die spezialisierten Psychotherapeut:innen eine Persönlichkeitsdiagnostik vor Einleitung der Behandlung.
Die Diagnostik für Jugendliche wird in spezialisierten Zentren (z.B. im AKH Wien) angeboten und im Rahmen von Studien durchgeführt. Das ist gut, damit dieses Krankheitsbild noch besser erforscht werden kann.
Nach der Diagnostik ist eine ausführliche Aufklärung im Sinne von Psychoedukation der Patient:innen und deren Eltern notwendig.
Was ist noch wichtig zu wissen?
Eine nichtbehandelte Persönlichkeitsstörung führt zu schwerwiegenden Beeinträchtigungen im Leben eines Menschen. Der Ausbildungsweg wird häufig abgebrochen, es zeigen sich massive soziale Schwierigkeiten, und die Schwere der Autoaggression führt zu häufigen Spitalsaufenthalten. Dies kann zu einem Teufelskreis aus sekundärem Krankheitsgewinn (Vorteile durch Krankheit, z.B. Aufmerksamkeit), Vermeidungsverhalten, hoher Aufmerksamkeit bei einer stationären Aufnahme etc. führen. Es wird empfohlen, analog zur Behandlung bei Erwachsenen, nach der Diagnosestellung eine spezifische psychotherapeutische Behandlung zu etablieren. Medikamentöse Behandlung ist nur nachgereiht von Bedeutung, in der Behandlung von Komorbiditäten und als Notfallmedikation bei akuten Krisen.
In der Behandlung der Persönlichkeitsstörung steht die Psychotherapie im Vordergrund. Die Diagnose ist notwendig, um nebenwirkungsreiche Polypharmazie (Einnahme mehrerer Medikamente gleichzeitig) zu vermeiden. Ebenso führen stationäre Aufenthalte eher zu einer Verschlechterung der Symptomatik bei starker Regressionsneigung (Tendenz, in schwierigen Situationen auf frühere Verhaltensweisen zurückzufallen). Stationäre Behandlung sollte nur eine Rolle für kurze Krisenaufnahmen bei akuter Suizidalität spielen. Ein weiterer wichtiger Fokus in der Behandlung ist das Aufrechterhalten einer Tagesstruktur und die Arbeit mit den Eltern bzw. weiteren Bezugspersonen, um aufrechterhaltende Muster zu unterbrechen.
2. Störungsspezifische Therapieansätze im Kindes- und Jugendalter
Die Übertragungsfokussierte Psychotherapie für Adoleszente (TFP-A)
Ziel der Behandlung ist die Entwicklung eines stabilen Selbsterlebens, eines stabilen Selbstwertes und damit einhergehend haltender und tragfähiger Freundschaften und Beziehungen. Die Behandlung findet üblicherweise in einem Setting von 2-mal pro Woche und regelmäßigen Gesprächen mit Eltern/Betreuungspersonen statt.
Die sich wiederholenden Beziehungsmuster werden im Hier und Jetzt aktiviert und können dadurch erkannt, benannt und bearbeitet werden. Zu Beginn wird ein Behandlungsrahmen als Richtlinie vereinbart, um destruktive Verhaltensweisen einzudämmen. Durch das Verstehen der Dynamik gelingt es den Jugendlichen zunehmend besser, die starken Gefühle zu regulieren und auszuhalten. Im Fokus steht ein Nachdenken über sich selbst und andere, über die Konsequenzen der eigenen Handlungen. Ziel der TFP-A ist es, die strukturelle Veränderung zu unterstützen und die zentralen Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz zu bewältigen.
Die wichtigsten strukturellen Veränderungen betreffen Bestandteile der Persönlichkeit, wie folgende:
- Selbstbild, ideales Selbst und Selbstwertgefühl,
- Moral und Ethik,
- Gefühle,
- Wahrnehmung und Interpretation,
- Beziehungen,
- Sexualität,
- Sorge und Wiedergutmachung;
Zu den Entwicklungsaufgaben gehören:
- unabhängiger von der Familie zu werden,
- eigene soziale Netzwerke aufzubauen,
- sexuelle Beziehungen zu leben
- romantische Paarbeziehungen zu gestalten,
- Lebens- und Berufsziele zu klären und zu verfolgen
Es gibt ein spezifisches Angebot zur Unterstützung der Eltern/Betreuungspersonen mit dem Ziel der guten Zusammenarbeit. Dadurch wird für Jugendliche ein mentaler Raum geschaffen, in dem sie Autonomie entwickeln und allmählich die Verantwortung für sich selbst übernehmen können.
DBT-A (Dialektisch Behaviorale Therapie- Adoleszente)
Die DBT-A wurde als Spezialisierung der DBT für Jugendliche (Adoleszente) von Miller, Rathus und Linehan (2007) entwickelt und integriert ebenso verhaltenstherapeutische sowie achtsamkeits- und akzeptanzbasierte Elemente.
Das „Herzstück“ der Behandlung ist das wöchentliche Skillstraining in der Gruppe. In den Modulen Achtsamkeit, Stresstoleranz, Emotionsregulation, Zwischenmenschliche Fertigkeiten, Selbstwert und Den Mittelweg gehen werden Möglichkeiten zum Umgang mit Anspannung und starken Gefühlen erarbeitet. Die Einzeltherapie orientiert sich an einer dynamischen Hierarchie der Therapieziele als roter Faden und enthält spezifische Bausteine wie z. B. Diary Cards und Verhaltensanalysen.
Die Basis der DBT-A bildet eine validierende, nicht bewertende dialektische Grundhaltung, pendelnd zwischen den Polen der Akzeptanz und der Veränderung. Übergeordnete Therapieziele sind die Verbesserung der Lebensqualität sowie der sozialen und schulisch-beruflichen Integration. Diese Ziele stehen gegenüber einer Reduktion dysfunktionaler Verhaltensweisen wie Selbstverletzungen klar im Vordergrund.
Im Vergleich zur DBT wird in der DBT-A die Familie stärker in die Behandlung miteinbezogen. Das Skillstraining wird um das Modul Den Mittelweg gehen mit familien- und jugendspezifischen Inhalten ergänzt. Mithilfe der family skills nach Fruzzetti werden eine achtsame Beziehungsgestaltung und weitere Skills für den familiären Alltag erlernt.
Die Wirksamkeit der DBT-A konnte mehrfach wissenschaftlich bestätigt werden.
Ergänzung aus der DBT-C (Children)
Emotionale Dysregulation zeigt sich durch starke und intensive Anspannung sowie der langsamen Rückkehr zum Ausgangsniveau. Verhaltensweisen sind oft reaktiv und impulsiv. Diese können im Kindesalter Wutanfälle, rückzügliches Verhalten, intensives Angsterleben oder verbale und körperliche Aggression beinhalten. Angehörige brauchen oft Unterstützung, um auf die Bedürfnisse der sensiblen Kinder („supersensors“) angemessen zu reagieren, und um invalidierende, aufschaukelnde Spiralen in der Kommunikation zu verringern. Die Sensibilität der Kinder kann sich zum Beispiel in Hyperaktivität, im Vermeiden von anstrengenden Tätigkeiten, in Schwierigkeiten mit Belohnungsaufschub oder im Umgang mit Veränderung und Hygiene zeigen.
Die DBT-C unterstützt Eltern anfangs darin, „Superparents“ für ihre sensiblen Kinder zu werden und dadurch ein validierendes und veränderungsbereites Umfeld zu schaffen. Eltern selbst vermitteln als wichtigstes Tool ein Modell für Emotionsregulation und einer stärkenden, wechselseitigen Eltern-Kind-Beziehung. Dies schafft eine Basis für Vertrauen, Respekt und Akzeptanz und ermöglicht, dem Kind, Selbstliebe und ein Gefühl von Sicherheit und Dazugehörigkeit aufzubauen bzw. zu erleben.
Weitere spezifische Psychotherapiemethoden
Weitere spezifische Verfahren sind die MBT-A, TFP- A und die Schematherapie. Nach Wissensstand des Netzwerkes gibt es derzeit in Wien und Umgebung keine Therapeut:innen in diesem Bereich. Falls Sie diese Form der Therapie anbieten, bitte wenden Sie sich gerne an das Netzwerk, damit wir das ergänzen können. Allgemeines zu den vier bekannten Borderline-spezifischen psychotherapeutischen Verfahren finden Sie unter Behandlungsansätze/Psychotherapie.
3. Prävention und Eltern-Kleinkindtherapie
Unterstützung in der frühen Kindheit
Schwangerschaft, Geburt und Elternschaft werfen viele Fragen auf. Die meisten Eltern verbinden den Alltag mit Säuglingen und Kleinkindern mit großen Erwartungen, aber auch mit vielen Aufregungen. Gerade in den ersten Lebensjahren des Kindes tauchen viele Unsicherheiten und Fragen hinsichtlich der kindlichen Entwicklung auf. Diese lösen bei den Eltern oft unterschiedliche Gefühle, wie Besorgnis, Ärger, etc. aus und können zu Belastungen im Familienleben führen. Eine frühzeitige Hilfe kann mehr Sicherheit im Umgang mit dem Baby/Kleinkind geben. Diese chancen- und risikoreiche Lebensphase ist von großer Bedeutung für die weitere Entwicklung des Kindes und der Eltern.
Krisen und seelische Probleme für Eltern, Babys und Kleinkinder treten auf, beispielsweise…
- bei belastender Schwangerschaft, schwieriger Geburt oder einer Frühgeburt.
- wenn ein Baby sehr viel schreit und sich nur schwer beruhigen lässt.
- wenn das Leben mit einem Baby kompliziert und anstrengend erscheint.
- wenn bei Eltern häufig Unsicherheit, Ängstlichkeit oder Überforderung auftreten.
- wenn Mutter/Vater ihr Baby anders erleben, als sie es sich vorgestellt haben.
- wenn das Essverhalten des Babys/Kleinkindes große Sorgen macht.
- wenn das Baby/Kleinkind schwer einschläft oder wenig schläft, oft aufwacht.
- wenn alltägliche Trennungen dem Kind Schwierigkeiten bereiten.
- Eltern an ihre Grenzen der Belastbarkeit kommen.
- das Baby/Kleinkind psychosomatische Beschwerden hat.
- das Baby/Kleinkind häufig schlecht gelaunt, traurig oder aggressiv ist.
- das Baby/Kleinkind ängstlich ist und/oder sich zurückzieht.
- wenn sich herausfordernde und unvorhergesehene Emotionen gegenüber dem Baby/Kind zeigen.
Eltern-Kleinkind-Therapie (EKKT) – die Behandlungsmethode
Die Eltern-Kleinkind-Therapie (EKKT) ist eine psychoanalytisch-orientierte Behandlungsmethode, die sich auf die Beziehung zwischen Eltern und ihrem Säugling/Kind konzentriert. Sie zielt darauf ab, frühzeitig Belastungen und Störungen bereits in ihrer Entstehung aufzufangen bzw. zu mildern. Ebenso soll sie eine beeinträchtigte Kommunikation zwischen Säugling/Kind und Mutter/Vater verbessern. In der Eltern-Kleinkind-Therapie wird versucht, gemeinsam die Bedürfnisse und die Sprache des Babys/Kindes besser verstehen zu lernen, damit eine sichere emotionale Bindung entstehen kann.
Das Angebot richtet sich an schwangere Frauen, Mütter und Väter mit Borderline-Störung und ihren Babys/Kleinkindern von 0-3 Lebensjahren.
4. Krisenanlaufstellen für Kinder und Jugendliche
Die Akutversorgung in Wien ist regionalisiert nach Meldeadresse.
Die Ambulanz der Univ. Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am AKH Wien (4.-9., 16.-18., 21. (ab 13 Uhr), 22.Bezirk)
Tel.: 01-40400 30140
Die kinder- und jugendpsychiatrische Abteilung im Krankenhaus Rosenhügel (1.-3., 10.-15., 19., 20., 23. Bezirk)
Tel.: 01-88000 339
Das Krankenhaus Floridsdorf (21.Bezirk 8-13:00)
Tel: +43 1 27700 72700
Ambulatorien des PSD
Niedergelassene Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie: