Empfehlungen für Eltern von Jugendlichen mit Borderline-Störung aus der Perspektive der gelebten Erfahrung:
Ich war sehr früh und lange selbst betroffen von der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Mittlerweile geht es mir gut, ich führe ein erfülltes Leben und mache sehr viel aufklärende Arbeit über Borderline – besonders in der Arbeit mit Angehörigen. Viele Eltern fragen mich: „Darf ich Nein sagen, wenn ich Angst haben muss, dass meine Tochter sich dann selbst verletzt?“, „Bin ich Schuld an allem – was habe ich falsch gemacht?“, „Ich mache alles für meinen Sohn, was kann ich noch tun?“ Da geht es wirklich vielen gleich. Ohnmachtsgefühle, Hilf- und Hoffnungslosigkeit, Trauer und auch Wut können alltägliche Gefühle für Eltern sein. Ich habe ganz viele Tipps, den gemeinsamen Umgang zu erleichtern und eine stabilere Beziehung zu führen. Um den Rahmen nicht zu sprengen, benenne ich hier meine 6 wichtigsten:
- Sich informieren: Je besser Sie über die Krankheit informiert sind, umso besser können Sie sie erkennen und lernen damit umzugehen. Viele Dinge, über die man sich bei Betroffenen ärgert, sind Symptome der Erkrankung, wie beispielsweise die emotionale Instabilität – „Himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt“ innerhalb kürzester Zeit. Einem Menschen mit gebrochenem Fuß und Gips wirft man nicht vor, dass er langsamer läuft. Auch bei der Borderline-Erkrankung ist es wichtig, die jeweiligen Symptome nicht als absichtliches (böswilliges) Verhalten zu fehlinterpretieren. Versuchen Sie immer wieder die wertvolle Person hinter der Krankheit zu sehen, mit all ihren Fähigkeiten wie eine oftmals ausgeprägte Empathie, Kreativität und Neugier. Noch ein Tipp: Verwenden Sie bei der Informationssuche unbedingt seriöse Quellen, die auf fundierten Forschungen, Fachwissen oder Erfahrungsexpertise (z. B. www.i-borderline.at) basieren!
- Grenzen setzen: So wichtig es ist, Verständnis für die Symptome zu zeigen, so wichtig ist es für die Angehörigen gleichzeitig, der Erkrankung Grenzen zu setzen. Mein bester Freund sagte zu mir: “Borderline ist kein Zertifikat, das dir die Verantwortung für dein Handeln völlig abnimmt – es macht es verständlicher, aber trotzdem ist es nicht okay.” Signalisieren Sie, dass Sie für die betroffene Person da sind und auch hier bleiben wollen. Das bedeutet jedoch nicht, dass Sie sich alles gefallen lassen müssen – im Gegenteil: Wenn Sie der betroffenen Person rückmelden, was für Sie verletzend ist und dass es Sie wütend oder traurig macht, ermöglichen Sie ihr, dies zu erkennen. Betroffene erleben oft, dass Menschen sich einfach von ihnen abwenden und sie als „Zicke“ oder „Psycho“ abstempeln. “Ich bin da und ich möchte da bleiben, doch so möchte ich nicht behandelt werden. Ich wünsche mir, dass auch du mich respektvoll behandelst“, ist ein Beziehungsangebot auf einer konstruktiven Ebene.
- Validierende Grundhaltung: Personen mit Borderline spüren oft sehr viel – ob das Gegenüber schlecht gelaunt ist, eine Spannung in der Luft liegt oder jemand traurig ist. Dabei erleb(t)en sie diesbezüglich häufig Invalidierungen, wie beispielsweise: “Nein, das bildest du dir nur ein”, „Tu nicht so“, „Jetzt reiß‘ dich zusammen – es ist nicht schlimm”, oder “Du übertreibst mal wieder.” Betroffene beginnen dadurch, ihren eigenen Gefühlen und ihrer Wahrnehmung zu misstrauen. Bereits vorhandene schmerzhafte Verinnerlichungen wie “Ich bin falsch“, “Ich bin unzumutbar” oder “Ich übertreibe”, werden verstärkt und führen zu einer erhöhten Spannung. Etwas zu “validieren” heißt nicht, etwas gutzuheißen. Es bedeutet, die Gefühle, Gedanken oder Erfahrungen einer Person anzuerkennen bzw. zu akzeptieren, ohne sie zu beurteilen oder zu kritisieren. Beispielsweise: Die betroffene Person steht schreiend und weinend vor Ihnen – alles sei zu viel, überall müsse sie helfend einspringen, könne eh schon nicht mehr schlafen und niemand schaue auch ‘mal auf die betroffene Person. – Das ärgert Sie selbst möglicherweise, da Sie ja auch nichts dafür können. Sie validieren also nicht “Es ist okay, dass du mich anschreist und deinen Frust an mir auslässt”, denn das ist es nicht. Aber: Sie validieren das Gefühl, den Zustand, nämlich: “Es hört sich an, als ob die letzten Tage für dich sehr stressig waren”, “Wenn ich das Gefühl hätte, das niemand auf mich schaut, wäre ich auch verletzt und gekränkt”, oder, “Du musst grad echt viel aushalten.” In diesem Moment fühlt sich die Person in ihrem Schmerz gesehen, was das intensive Gefühl (z. B. Kränkung, Ärger, Überforderung) abschwächen kann. Im nächsten Schritt, wenn sich die Person beruhigt hat, könnten Sie dann wieder eine Grenze ziehen: “Ich kann nachvollziehen, dass dir gerade alles zu viel war. Solche Situationen kenne ich auch. Mich macht es aber traurig, wenn du mich dann so anschreist. Ich wünsche mir, dass du oder wir gemeinsam für solche Momente eine konstruktive Strategie finden.”
- Krisenplan erstellen: Für mich war es sehr wichtig, genau zu wissen: Was sind Schwierigkeiten im Alltag und wie gehe ich damit um? Was sind Frühwarnzeichen? Ein Beispiel: Schlafe ich schlecht, bin ich sehr verletzlich -> Strategie: An solchen Tagen gehe ich sehr achtsam mit mir um, lege bewusst mehr Pausen ein und mache nur das, was wirklich nötig ist. Das Frühwarnzeichen wäre direkt nach dem Aufstehen “Ich habe schlecht geschlafen.” Diese Zeichen und den Krisenplan teilte ich mit Personen, die mit mir zusammen wohnten sowie engen Freund*innen – manchmal merkte ich diese Warnzeichen selbst nicht und da half es mir, wenn man mich liebevoll aufmerksam machte. Beispielsweise durch den Satz: “Ich habe das Gefühl, du bist gerade sehr angespannt. Kann das sein?“ Entwickeln Sie gemeinsam mit Ihrem Kind einen Krisenplan oder motivieren sie es dazu, das alleine zu tun. In diesem Plan können Frühwarnzeichen, bewährte Bewältigungsstrategien und Kontaktdaten von Unterstützungsnetzwerken festgehalten werden.
- Hilfe zur Selbsthilfe: Es ist hilfreich, wenn Sie am Rande des Weges Ihres Kindes stehen und es anfeuern, weiterzugehen. Wichtig ist jedoch: Den Weg muss Ihr Kind selbst gehen. Versuchen Sie nicht, Dinge zu erledigen, die es eigenständig tun kann. Je eher sich Ihr Kind selbst zu helfen lernt und Eigenverantwortung übernimmt, umso schneller kommt es auf dem Genesungsweg voran. Beispielsweise ist es wichtig, dass Ihr Kind Termine selbst absagt, die es nicht wahrnehmen kann. So lernt es, trotz Problemen „in Beziehung zu bleiben“ und zu kommunizieren. Sagte meine Freundin einen Termin für mich ab, weil ich Angst vor schlimmen Konsequenzen hatte, versteckte ich mich unter der Decke und fühlte mich unfähig mein Leben zu organisieren. Stornierte ich trotz der Angst den Termin selbst, erlebte ich oft, dass das Gegenüber total nett und verständnisvoll war – so lernte ich wieder, mir selbst, meiner eigenen Handlungsfähigkeit und auch anderen Menschen zu vertrauen.
- Empathisch zuhören: Eine Person mit Borderline empfindet oft viel Scham für sich selbst und Schuld für das eigene Verhalten. Nach einem Wutanfall habe ich mich oft so sehr geschämt, weil ich “so unzumutbar” wirkte, dass ich mich gar nicht entschuldigte oder den Vorfall ignorierte. Das Gegenüber meinte dann, ich sehe meinen Fehler nicht ein, es sei mir egal – doch das Gegenteil war der Fall. So geht es ganz vielen Menschen mit dieser Erkrankung. Es gibt jedoch Momente, in denen sich Betroffene öffnen, Einblicke in ihren Alltag geben und sich damit gleichzeitig sehr verletzlich machen. In solchen Momenten empfehle ich Folgendes: Hören Sie empathisch zu, denn gerade jetzt versucht die betroffene Person Ihnen eine kleine “Gebrauchsanweisung” für sich zu geben, sich Ihnen zu erklären. „Empathisches Zuhören“ bedeutet da zu sein – aufmerksam zuzuhören, versuchen zu verstehen und mit respektvoller Neugier nachzufragen. Ein Beispiel: “Ich kann mir vorstellen, dass es nicht einfach ist für dich, darüber zu reden. Ich verstehe noch nicht ganz, was passiert, wenn du dich verletzen willst – kannst du mir das genauer erklären? Ich will es wirklich verstehen.”
Diese sechs Punkte stellen natürlich eine große Herausforderung dar und sind oftmals gar nicht so einfach umzusetzen. Seien Sie deshalb auch gnädig mit sich selbst und holen auch Sie sich bestenfalls Unterstützung auf diesem Weg. Wärmstens empfehle ich Ihnen Trialoge (in Österreich z. B. der Borderline-Trialog-online.at) – ein Austausch zwischen voneinander unabhängigen Betroffenen, Angehörigen und Fachkräften zu bestimmten wie Themen, wie der „Nähe-Distanz“-Dynamik . Die ganzheitliche Beleuchtung fördert Verständnis auf allen Seiten und schafft gleichzeitig die Möglichkeit, gute Lösungen zu finden.
- Kinder als Angehörige (von Eltern mit Borderline Störung)
Ehemalig selbst betroffen von der Persönlichkeitsstörung und in der Rolle einer aufklärenden Erfahrungsexpertin ist mir die besondere Dynamik bewusst, wenn Kinder als Angehörige von Eltern mit Borderline-Störung betroffen sind. Hier einige persönliche Gedanken:
- Kinder als Angehörige: Die Auswirkungen der Borderline-Störung auf Kinder dürfen nicht unterschätzt werden. Es ist von entscheidender Bedeutung, den erheblichen Stress und emotionale Belastungen, die sie erleben können, zu berücksichtigen und die Kinder unterstützend zu begleiten.
- Bedarf an spezifischer Unterstützung: Kinder, die mit einem Elternteil mit Borderline-Störung aufwachsen, benötigen oft besondere Unterstützung – sei es in Form von Beratung, Therapie oder einer pädagogischen Begleitung. Ich hatte selbst ein psychisch krankes Elternteil und verstand nie, was wirklich los war. Die Stimmungsschwankungen bezog ich auf mich – wäre ich ein braveres Kind, würde ich
nicht so behandelt werden. Es hätte mir sehr geholfen, hätte man mir erklärt, dass es sich um eine Krankheit handelt und wie ich diese erkenne. Möglichkeiten, mich zu schützen sowie eine professionelle Bezugsperson hätten mir sicher einiges erleichtert. Die Bedürfnisse dieser Kinder nach Sicherheit und Stabilität sollen bestmöglich gewährleistet werden, eventuell auch durch gemeinsame Gespräche mit dem Elternteil.
- Trialoge als Chance: Betroffene, Angehörige und Fachkräfte der Borderline- Persönlichkeitsstörung tauschen sich gemeinsam zu den Schwierigkeiten der Erkrankung aus. Gemeinsames Verständnis und Empathie werden gefördert, man kann die Teilnehmer:innen aller drei Gruppen direkt fragen: „Was hilft euch in dieser Situation? Wie geht ihr damit um?“ Trialoge stellen für mich eine besondere Chance dar, da sie die Möglichkeit bieten, auch die Stimmen der Kinder als Angehörige einzubinden. Es ist wichtig, dass diese Kinder eine Plattform haben, auf der ihre Erfahrungen gehört werden und ihre Bedürfnisse beachtet werden können. In Österreich gibt es z. B. den Borderline-Trialog-online.at.
- Gemeinsame Verantwortung: In der Aufklärung über die Borderline-Störung und ihren Einfluss auf Familien sehe ich eine gemeinsame Verantwortung – nicht nur die der betroffenen Eltern und ihrer Kinder, sondern auch der Gesellschaft. Gemeinsam können wir einen Raum schaffen, der die Bedürfnisse dieser Kinder in den Vordergrund stellt und ihnen die Unterstützung bietet, die sie verdienen.
Diese Gedanken beruhen auf meiner eigenen Reise mit der Erkrankung und dem starken Wunsch, eine positive Veränderung für Kinder in Familien mit Borderline-Störung herbeizuführen.